Rezensionsvorlage

 

Renata Rapp Wagner: Postmodernes Denken und Pädagogik. Eine kritische Analyse aus philosophisch-anthropologischer Perspektive. Verlag Paul Haupt 1997.

Mit einem Vorwort von Fritz-Peter Hager

 

Das postmoderne Denken hat sich sowohl in seiner philosophischen Ausprägung im französischen Poststrukturalismus (J.-F. Lyotard, J. Baudrillard, M. Fou-cault, J. Derrida) als auch in seinen grundsätzlichen Aeusserungen z.B. in den USA, in Grossbritannien und Deutschland als ein äusserst komplexes Phänomen erwiesen, und der Begriff der Postmoderne muss geistesgeschichtlich gesehen als ein uneinheitliches und höchst problematisches Konstrukt angesehen werden. Seit Beginn der siebziger Jahre hat sich dieses Denken auch in der pädagogischen Theorie und Reflexion ausgewirkt. Trotz der Uneinheitlichkeit und Komplexität des postmodernen Denkens, wie auch seiner Rezeption in der Pädagogik, lassen sich aber doch gewisse Grundtendenzen der postmodernen Philosophie und gewisse Grundzüge ihrer Auffassung vom Menschen und seiner gegenwärtigen Situation feststellen, welche auch eine Bedeutung für die Pädagogik haben.

Vorliegende Arbeit profiliert sich gegenüber anderen Untersuchungen, die eine kritische Bestandesaufnahme der Rezeption postmodernen Denkens in der Pädagogik bieten, dadurch, dass Rapp Wagner gewisse Grundzüge des "Menschenbildes", welches sich aus dem postmodernen Denken ergibt, herausarbeitet und diese den Grundüberzeugungen des Menschenbildes und der Ethik in der europäisch-abendländischen Tradition von der Antike bis zur Aufklärung gegenüberstellt.

Mit dem Begriff der "Postmoderne" wird oft die heutige Situation einer radikal pluralistischen Gesellschaft bezeichnet, in der ein Werterelativismus und eine Orientierungslosigkeit in Werte- und Sinnfragen vorherrschen, und in der bis anhin geltende, bewährte Werte und Formen des Zusammenlebens in Familie, Schule und anderen Institutionen in Frage gestellt werden. Universell gültige Prinzipien bis hin zu den Menschenrechten werden heute zunehmend relativiert. Wir beobachten eine Auflösung der Familie als Kern der Gesellschaft und die gleichzeitige Propagierung aller möglicher Lebensformen, die einander gleichwertig seien. Gibt es eine bestimmte Philosophie, ein "postmodernes Denken", das diesen Phänomenen zugrundeliegt, und welche Inhalte sind dafür charakteristisch? ist die Ausgangsfrage der Untersuchung. Folgende fünf Merkmale oder Kategorien, die zueinander gegenseitig in Wechselbeziehung stehen, sind charakteristisch für postmodernes Denken: Antihumanismus, Wertezersetzung und Relativismus, ein Angriff auf die Vernunft, Wissenschaftsfeindlichkeit und ein Bruch mit der Geschichte. Diese Kategorien kreisen - und das ist zeitgeschichtlich gesehen kein Zufall - um den Menschen und sein Wesen, das sie dekonstruieren. Postmodernes Denken negiert eine allgemeingültige Anthropologie, d.h. die Tatsache, dass es bestimmte universelle Gegebenheiten der menschlichen Natur gibt.

Repräsentative Autoren für die Thematik sind hier Jean-Francois Lyotard und Michel Foucault für den französischen Sprachbereich und Paul Feyerabend und Peter Sloterdijk für das deutschsprachige Denken. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie sich selbt als postmoderne Denker bezeichnen oder einem "anonymen Postmodernismus" zuzurechnen sind. Sie gehören allgemein zum Umkreis des Postmodernismus und Poststrukturalismus in der Philosophie oder Erkenntnistheorie. Die Wurzeln dieser Theorien gehen auf das neomarxistische 68er-Denken zurück, und z.Teil sind die Autoren selber - wie Foucault - 68er Kultphilosophen gewesen.

Die Arbeit ist folgendermassen aufgebaut: Im philosophischen Hauptteil der Arbeit (Teil II) wird das postmoderne Denken unter den fünf Kategorien und anhand dieser vier Autoren systematisch analysiert und kritisch diskutiert. Den philosophischen Hintergrund dazu bildet Teil I der Arbeit, der das personale Menschenbild und die konstitutiven Werte von Vernunft, Tugend und Freiheit in der Bildungs- und Ethiktradition des europäischen Abendlandes anhand von Klassikern der Philosophie und Pädagogik darstellt. Die Konsequenzen des postmodernen Denkens für die Pädagogik thematisiert Teil III der Arbeit, wobei unter anderem die erziehungswissenschaftliche Debatte zum Thema rezipiert wird. Beispiele von Konzeptionen postmoderner Pädagogik aus dem englisch- und dem deutschsprachigen Bereich werden anschliessend vorgestellt und in ihren Folgen für Erziehung und Bildung kritisch beurteilt.

Der inhaltliche Ertrag der Untersuchung kann hier aufgrund der Ausführlichkeit der Arbeit nur anhand einiger Beispiele wiedergegeben werden. Gesamthaft zeigt sich deutlich, dass das postmoderne Denken einen Bruch mit der europäisch-abendländischen Bildungs- und Ethiktradition bedeutet, wie es auch als "Ende der grossen Erzählungen" (Lyotard) angekündigt wird. Durch die fünf Kategorien hindurch und bei jedem der vier Autoren kann diese Stossrichtung nachgewiesen werden. Der postmoderne Angriff auf die Vernunft (als ein Merkmal postmodernen Denkens) wird sehr scharf geführt. Bei Foucault ist zu lesen, dass seit der Neuzeit die Vernunft ihr Anderes, den Wahnsinn, ausgegrenzt habe. Die Vernunft sei totalisierend bis totalitär. Sie gebe Herrschafts-Normen vor, die den Menschen von innen her disziplinierten und normalisierten. Die Vernunft sei keineswegs ein den Menschen positiv auszeichnendes Vermögen, darin sind sich die vier Autoren einig. Sloterdijk z.B. spricht von der "zynischen Vernunft" der Tradition der Aufklärung, die in der Atombombe kulminiere. Vernünftiges und wissenschaftliches Denken sei kaltes Denken und dem Wärmestrom des Lebens entgegengesetzt. Mittels Vernunft und Wissenschaft zerstöre der Mensch die Natur, weil er sie zum Objekt der Beherrschung mache. Der Wille zum Wissen sei ein Wille zur Macht, so Foucault und seine Adepten. Hierin stimmen die Autoren mit der "Dialektik der Aufklärung" von Horkheimer und Adorno überein, in der die "instrumentelle Vernunft", Wissenschaft und Technik als unheilbringende Kräfte dargestellt werden. Bei Feyerabend werden alle, die sich auf die Vernunft abstützen, in den Umkreis des "Ratiofaschismus" eingeordnet. Jede Kultur habe ihre eigenen Vorstellungen davon, was vernünftig sei, darüber hinaus gebe es keinen allgemeingültigen Massstab. Anstelle der universellen Vernunft könne nach dem "Ende der grossen Erzählungen" höchstens noch eine "Vernunft im Plural" gedacht werden, die je nach "Sprachspiel" lokal, kulturell und historisch different sei. Die postmoderne Philosophie lehnt getreu ihrem Programm der "Zersplitterung" und der "Differenz" eine einheitliche Anthropologie ab. Feyerabend, Foucault, Lyotard und Sloterdijk leugnen eine menschliche Natur, die jedem Menschen eigen ist, weil er Mensch ist, jenseits kultureller und gesellschaftlicher Differenzen und Besonderheiten. Der Mensch und sein Wesen konstituiere sich abhängig vom jeweiligen Kontext und dem herrschenden Diskurs – postmoderne Theorie entpuppt sich als Abkömmling des Marxismus, der den Menschen als "Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse" bestimmt. Mit der Negierung eines universellen Wesens des Menschen wird tatsächlich relativ und beliebig, welche Werte dem gesellschaftlichen Zusammenwirken zugrundegelegt werden sollen. Ausgeblendet wird die Frage, ob faktisch geltende Werte und Normen, z.B. die der pluralen und heterogenen Lebensformen, dem Wesen des Menschen gemäss sind und das Gelingen zwischenmenschlicher Beziehungen und gegenseitige Kooperation fördern.

Im pädagogischen Teil der Arbeit geht es um die Frage, welche Bereiche pädagogischer Theorie und Praxis vom postmodernen Denken betroffen werden, und welche Auswirkungen es hat. Mit diesen Fragen hat sich die Erziehungswissenschaft im deutschen Sprachbereich ab 1987 intensiv und kontradiktorisch auseinandergesetzt. Einig waren sich die Vertreter der Erziehungswissenschaft darin, dass sich postmoderne Philosophie schon auf die pädagogische Theorie bezieht, nicht erst auf die Fragen der pädagogischen Praxis: Es geht um die Grundlagen der Pädagogik, z.B. um die Geltung der Wahrheit, die Auffassung von Wirklichkeit, um das Menschenbild, um Wertorientierungen, die Frage der Vernunft u.a.m. Diese Einschätzung wird durch die vorliegende Arbeit bestätigt: die philosophisch-anthropologischen Voraussetzungen pädagogischer Theorie, nämlich das Subjekt als vernunftbegabte, einheitliche, je individuelle Person mit Entscheidungsfreiheit und Verantwortung für ihr Handeln, wird durch das postmoderne Denken aufgelöst. Damit verliert aber die Pädagogik ihr Subjekt der Erziehung. Um beim Beispiel der postmodernen Auflösung der Vernunft zu bleiben: Postmodernes Denken mit seinem elementaren Zweifel an der Vernunft gibt den Vernunftanspruch der Wissenschaft auf. Dies bedeutet für die Pädagogik: Ohne allgemeine Vernunft und mit einer radikalen Pluralisierung und Subjektivierung der Denkformen und -Inhalte ist keine einheitliche pädagogische Theorie mehr möglich.

In postmodernen Konzepten für die pädagogische Praxis wird dann deutlich, dass die radikale Subjektivierung und Relativierung, die das postmoderne Denken vornimmt, auf einen "Unterricht" hinausläuft, in dem die Schüler immer mehr selbst bestimmen, was sie lernen wollen, in dem auch die Lehrerrolle völlig umdefiniert wird, so dass der pädagogische Bezug zwischen Erwachsenem und Kind aufgelöst und die Fachautorität des Lehrers abgeschafft wird. Der Lehrer darf nur noch Material bereitstellen und dem Schüler zudienen. Der Begriff "Lehrer" sei obsolet geworden, meint ein Vertreter postmoderner "Pädagogik", Lehrer und Schüler seien beide "Lerner". Als Legitimierung gilt die postmoderne Behauptung, dass nichts objektiv und allgemeingültig sei, auch kein Wissen und keine Werte. Das postmoderne Klassenzimmer wird zu einer Stätte immer neuer Erfindungen und Konstruktionen, wobei der bewährte Wissenskanon aus der europäischen Bildungstradition als Altlast abgeworfen wird. Selber in der Schul-praxis stehend, kann die Autorin beobachten, dass zeitgenössische Schulreformer solche Konzepte aufgenommen haben und sie in der Lehreraus- und Weiterbildung als fortschrittliches und modernes Verständnis von Schule und Unterricht an Lehrer und Lehrerinnen weitervermitteln, die diese Konzepte dann in ihren Klassenzimmern in die Tat umsetzen.

Rapp Wagner ist es gelungen, eine überzeugende Systematik für "postmodernes Denken" vorzunehmen, von der ausgehend typische Inhalte und Menschenbilder postmodernen Denkens detailliert und sorgfältig herausgearbeitet und analysiert werden konnten. Wertvoll ist die Gegenüberstellung mit philosophisch-anthropologischen Positionen der europäischen Bildungstradition, die heute in Gefahr sind, der Amnesie preisgegeben zu werden. Eine Abschätzung der Auswirkungen postmodernen Denkens auf die Pädagogik hat gezeigt, dass sich Folgen destruktiver Art schon bis in die pädagogische Praxis hinein ergeben haben. Es ist deshalb an der Zeit, innezuhalten und das ganze Phänomen bis auf seine Wurzeln gründlich zu reflektieren. Die vorliegende Abhandlung bietet Anlass, sich auf die Grundwerte und Grundwahrheiten unserer europäischen Kultur- und Bildungstradition zu besinnen und darüber nachzudenken, inwiefern die weitere Verwirklichung dieser Werte und Wahrheiten durch das postmoderne Denken in Frage gestellt oder gar gefährdet wird.