September 1998   Nr. 9 Zeit-Fragen Seite 15

Postmodernes Denken und Pädagogik

Eine kritische Analyse

Mit dem Begriff der "Postmoderne" bezeichnet die Pädagogin und Psychologin Renata Rapp Wagner die heutige Situation einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft, in der ein Werterelativismus und eine Orientierungslosigkeit in Werte- und Sinnfragen vorherrschen. Bis anhin geltende, bewährte Werte und Formen des Zusammenlebens in Familie, Schule und anderen Institutionen werden in Frage gestellt.

kb. Das Anliegen dieses Buches, einer Dissertation in Historisch-systematischer Pädagogik, ist es, die Denkensart und das Menschenbild zu untersuchen, die diesen Phänomenen zugrundeliegen. Rapp Wagner hat zur Kennzeichnung des postmodernen Denkens fünf Hauptmerkmale herausgearbeitet und untersucht: Antihumanismus, Relativismus und Wertezersetzung, Angriff auf die Vernunft, ein Bruch mit der Geschichte und Wissenschaftsfeindschaft. Der Antihumanismus behauptet, der Mensch sei nur ein Produkt der jeweiligen Gesellschaft oder Kultur, spezifischer Sprachstrukturen oder der Triebe, die ihn bestimmten. Damit wird die Auffassung des Menschen als einer Person, die frei entscheiden kann und für ihre Handlungen verantwortlich ist, negiert. Zusätzlich wird im postmodernen Denken ein scharfer Angriff auf die Vernunft geführt. So wird z.B. suggeriert, die Orientierung an der Vernunft führe zum Totalitarismus - ein Vorwurf, der die Welt auf den Kopf stellt. Gerade das Vernunftprinzip, die Allgemeingültigkeit der Vernunft, ist eine Grundlage der europäischen Kultur und ihrer Errungenschaften der Freiheit und der Demokratie.

Postmoderne: Absage an Menschenrechte

Postmodern wird auch die Tatsache einer universellen menschlichen Natur geleugnet. Es gäbe daher auch keine Werte, die dem Menschen entsprechen und allgemeingültig sind. Es sei totalitär, den Menschen universelle Werte "aufzwingen" zu wollen - dies bedeutet eine klare Absage an die Menschenrechte! Einen Bruch mit der Geschichte vollzieht der bekannte Antihumanist Michel Foucault auf folgende Art: Er beschreibt die Geschichte der Neuzeit als eine Verfallsgeschichte, in der immer subtiler wirkende Herrschaftsmechanismen (z.B. der Schule, der Rechtsinstitutionen oder der Wissenschaft) den Menschen bis in sein Innerstes "normalisierten" und "disziplinierten". Nach Foucault ist der Mensch keine Person, sondern ein Konglomerat aus verinnerlichten Zwängen und unbewussten Trieben, der nicht über ein freies Selbstbewusstsein verfüge und sich nicht selber bestimme. Foucaults berühmtes Wort dazu: "Wo 'es' spricht, existiert der Mensch nicht mehr."

Diese kurzen Charakterisierungen postmodernen Denkens machen bereits deutlich, dass diese Merkmale nicht nur theoretische Begriffe sind, sondern eine stark praktische Relevanz haben, da sie das ethisch-anthropologische Bedingungsgefüge für die Lebenspraxis des Menschen in Frage stellen oder - im postmodernen Jargon - "dekonstruieren". Dieser Sachverhalt ist für die Pädagogik und ihre Umsetzung in die Praxis besonders bedeutsam. Das postmoderne Denken führt seinen Angriff genau auf anthropologische Konstanten und damit auf die Person.

Im ersten Teil der Arbeit beschreibt Rapp Wagner Grundwerte und Grundüberzeugungen des Menschenbildes der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte, um von da her das postmoderne Denken zu beurteilen. Die europäische Geistestradition mit ihren Werten der Vernunft, der Tugend und der Freiheit hat das freiheitlich-demokratische Gemeinwesen überhaupt möglich gemacht. Klassische Denker dieser Tradition sind u.a. Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Descartes, John Locke, Rousseau und Pestalozzi.

Antihumane Entwicklungen in der Pädagogik

Das postmoderne Denken hat destruktive Konsequenzen in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft, so auch in Pädagogik und Schule. Im Buch wird aufgezeigt, wie die postmoderne Philosophie Grundlage zahlreicher antihumaner Entwicklungen in der Schule darstellt, z.B. der Gestalt"pädagogik" oder der gezielten Zersetzung von Werten, die die Schüler aus ihrer Familie mitbringen. Auch die Absage an den allgemeinverbindlichen Wissenskanon unserer Bildungstradition durch einen rein subjektiven und relativistischen Wissensbegriff gehört zu den Zielsetzungen und Bestrebungen der Postmoderne. Der gemeinsame Ansatzpunkt ist der Angriff auf die Personwürde des Schülers: Der junge Mensch soll offenbar diejenigen Fähigkeiten - nämlich mitmenschliche Verbundenheit und sachliches Urteilsvermögen -, die er zur verantwortungsvollen Selbstbestimmung als Mitmensch und Bürger braucht, nicht ausbilden können.

Postmodernes Denken anerkennt nichts Allgemeingültiges mehr: keine verbindlichen Werte, kein Recht und keine Menschenrechte, keine objektive Wissenschaft und keine Vernunftorientierung. Was die Person schützt und ein friedliches Zusammenleben ermöglicht, will die Postmoderne abschaffen. Die vorliegende Arbeit von Rapp Wagner bietet, wie der Herausgeber Professor Dr. Fritz-Peter Hager in seinem Vorwort schreibt, reichhaltiges Material zur Besinnung über die Grundwerte und Grundwahrheiten unserer Kultur- und Bildungstradition. Sie fördert das Nachdenken darüber, inwieweit die weitere Verwirklichung und Verbreitung dieser Werte und Errungenschaften durch das postmoderne Denken und seine destruktiven Folgen in Frage gestellt und verunmöglicht wird. Das Buch ist ein Hinweis darauf, dass unsere freiheitliche Gesellschaftsordnung heute substantiell gefährdet ist.

Rapp Wagner, Renata. Postmodernes Denken und Pädagogik. Eine kritische Analyse aus philosophisch-anthropologischer Perspektive. Mit einem Vorwort von Fritz-Peter Hager. Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart, Wien 1997, Fr. 68.-.